Frau Schmidt-Neumeyer, Sie engagieren Sich in der Jugendhilfestation Neumarkt, eine Außenstelle der Rummelsberger Diakonie, zusammen mit Ihrem Team für unbegleitete minderjährige geflüchtete Jugendliche in Neumarkt.Wie viele unbegleitete Jugendliche betreuen Sie und Ihr Team derzeit in Neumarkt?

Zurzeit betreuen wir 19 minderjährige  und junge Erwachsene Flüchtlinge in Wohngemeinschaften und einen jungen erwachsenen Flüchtling betreuen wir mit Frau und Kind in einer eigenen Wohnung.

 

Wie kamen und kommen diese jungen Menschen zu Ihnen? Und wie kommt es, dass diese Minderjährigen ganz alleine unterwegs waren?

Die Fluchtrouten sind unterschiedlich und abhängig vom Herkunftsland. Im Sommer und Herbst 2015 kamen viele afghanische und syrische Flüchtlinge über die sogenannte Balkanroute nach Deutschland. Wir betreuen aber auch junge Menschen aus afrikanischen Ländern, deren Fluchtweg führte  über das Mittelmeer. Nachdem Sie von der Polizei aufgegriffen wurden, führte ihr Weg in sogenannte Clearingstellen oder Erstaufnahmeeinrichtungen. Die Aufgabe des Jugendamtes ist es dann gewesen, die Minderjährigen in Obhut zu nehmen. Auch Jugendämter aus anderen Kreisen und kreisfreien Städten stellten Betreuungsanfragen an die freien Träger, wie die Rummelsberger Diakonie. Im Spätherbst 2015 lebten in Neumarkt etwa 70 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

In der Regel ist es so, dass die Fluchtkosten nur für ein Familienmitglied aufgebracht werden können und das auch nicht für die gesamte Fluchtstrecke. Es ist nicht so, wie häufig dargestellt, dass die Flucht mit dem Flugzeug, sozusagen, one-way direkt nach Deutschland geht. Vielmehr betreuen wir Jugendliche, deren Flucht einige Jahre gedauert hat, weil sie im Gefängnis waren, oder eine Zeitlang Geld für die Weiterreise unterwegs  verdienen mussten. Die körperlichen und psychischen Strapazen mutet man den Söhnen der Familie eher zu. Zu Beginn in der Hoffnung, diese würden dann die gesamte Familie „nachholen“ können.

 

Wie können wir uns deren Alltag hier in Neumarkt vorstellen und wie unterstützen Sie diese Jugendlichen in ihrem neuen Leben hier?

Uns ist es wichtig, die Jugendlichen in eine feste Alltagsstruktur zu bringen, d.h. zu Beginn regelmäßiger Besuch im Integrationskurs und später dann in der Schule. Alle Jugendlichen besuchen die Schule, einige wenige befinden sich auch in Ausbildungsverhältnissen. Wir haben die Minderjährigen dabei begleitet, die Stadt Neumarkt und ihre Freizeitangebote  kennenzulernen, wir haben sie beim Erlernen alltäglicher Aufgaben, wie Einkaufen, Kochen, Waschen, Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel begleitet. Auch bei der Kooperation mit Ämtern helfen wir. Wir unterstützen die Jugendlichen bei schulischen und beruflichen Fragen und sind Ansprechpartner für alle Belange der Jugendlichen und  jungen Erwachsenen. Unsere Aufgabe ist es auch, die deutsche Kultur mit ihren Werten und Normen zu transportieren. Die Jugendlichen leben in kleinen Wohngemeinschaften zusammen und müssen alle Belange selbstständig bewältigen. Wir stehen helfend zur Seite. Unser übergeordnetes Ziel ist, die Selbstständigkeit und die Selbstverantwortung zu fördern.

 

Medienberichten zufolge haben viele Geflüchtete – Erwachsene wie Jugendliche und Kinder – mit traumatschen Erlebnissen in ihren Herkunftsländern und/oder auf der Flucht zu kämpfen. Mindestens jeder fünfte Mensch unter den Kindern und Jugendlichen soll betroffen sein. Doch es gibt Studien und Erfahrungsberichte, die von bis zur Hälfte aller geflohenen Kinder und Jugendlichen ausgehen. Wie sind hier Ihre Erfahrungen?

Niemand nimmt freiwillig die Strapazen und Gefahren einer Flucht auf sich, oder verlässt seine gesamten sozialen Bezüge, wenn er in seinem Herkunftsland keine Not oder positive Zukunftsaussichten hat. Die einzelnen Gründe, die zu einer Flucht führen, variieren. Afghanische Jugendliche berichten von Gewalterfahrungen und Tötungen durch die Taliban oder von bevorstehenden Rekrutierungen zu den Taliban. Eritreische Jugendliche berichten von kriegsähnlichen Zuständen und die Angst als Soldat rekrutiert zu werden. Syrische Jugendliche berichten von den Kriegserlebnissen in ihrem Land. Gemeinsam ist  allen Fällen das Erleben von Gewalt in unterschiedlichen Ausprägungen und von absoluter Perspektivlosigkeit im Heimatland. Auf der Flucht selbst waren viele Jugendliche Todesängsten, Not und Gewalt ausgesetzt.

Erlebnisse wie Flucht, Krieg, Vertreibung und Hilflosigkeit übersteigen in der Regel die Bewältigungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten von Menschen. Dadurch kommt es zu Belastungssymptomen.

 

Was bedeutet es für einen jungen Menschen, wenn er mit Traumata zu kämpfen hat?

Belastungsreaktionen aufgrund von Traumatisierungen können unterschiedlich auftreten. Viele Jugendliche, die wir betreuen klagen über Schlaflosigkeit. Auch ein herabgesetztes Konzentrationsvermögen oder Gedächtnislücken gehören dazu. Ein Trauma wird oft in einzelnen „Splittern“ abgespeichert und kann nicht als Ganzes erinnert werden. Das kann im Alltag dazu führen, dass äußere Einflüsse, wie Geräusche, Gerüche oder Worte dazu führen, dass  bei den  Jugendlichen Prozesse  ablaufen, als ob sie die Situation tatsächlich wieder erleben. Das macht sich zum Beispiel in Herzrasen, Sprachlosigkeit, und Übelkeit bis hin zu Abwesenheitsgefühlen bemerkbar. Das bedeutet, die Idee, dass alles gut ist, sobald die Jugendlichen in Sicherheit sind, ist so nicht zutreffend. Die Jugendlichen haben keine innere Sicherheit, diese gilt es zu stärken. Fast alle jungen Menschen, die wir betreuen,  hatten inzwischen ihre Anhörung und haben große Angst vor einem ablehnenden Bescheid  und vor der Abschiebung.  Die Ungewissheit beeinträchtigt  jedoch die innere Sicherheit, was wir in letzter Zeit verstärkt beobachten. Die Belastungssymptome nehmen zu.

 

Welche Angebote können diesen jungen Menschen helfen, seelisch gestärkt zu werden?

Wir können nicht davon ausgehen, dass eine Therapie, die sprachliche Sicherheit erfordert, bei allen Jugendlichen möglich ist. In vielen Herkunftsländern ist Therapie oder therapeutische Versorgung unbekannt oder wird skeptisch betrachtet. Deshalb versuchen wir zunächst über eine feste Alltagsstruktur bei den Jugendlichen das Gefühl der Sicherheit zu erreichen. Auch eine pädagogische Haltung der Präsenz ist wichtig, da die Jugendlichen so Verlässlichkeit und Beziehungsangebote erfahren. Auch das schafft Sicherheit und Stabilität. Darüber hinaus, versuchen wir den jungen Menschen, Momente der  Unbeschwertheit zu vermitteln.

 

Ein solches Angebot möchten Sie den Jugendlichen nun in Kooperation mit Artists for Refugees ermöglichen. Was genau soll da passieren?

Wir würden gerne, begleitet durch  eine Firma, die auf erlebnispädagogische Angebote spezialisiert ist, mit  den jungen Menschen einen Tag in der Hersbrucker Schweiz verbringen. Es sollen gemeinschaftsfördernde Erlebnisse ermöglicht werden, z.B. das gemeinsame Abseilen.

 

Warum wählen Sie dabei einen erlebnispädagogischen Ansatz? Was können wir uns darunter vorstellen und wie profitieren die jungen Geflüchteten davon?

Wir wünschen uns für die jungen Menschen, dass sie sich unabhängig von Herkunft und Sprache als kompetent und selbstwirksam erleben können. Viele Jugendliche können durch herkömmliche therapeutische Angebote nicht gut erreicht werden. Viele haben Angst davor, ihre schlimme Geschichte zum wiederholten Male, quasi als „Eintrittskarte“ erzählen zu müssen. Das führt aber häufig zu einer Destabilisierung. Die Jugendlichen haben Kontrollverlust und Hilflosigkeit erlebt. Der praktische erlebnispädagogische Ansatz kann ihnen jedoch Erlebnisse vermitteln, sich etwas zuzutrauen und mögliche Ängste zu überwinden, hat aber das Tempo eines jeden Einzelnen im Blick.

 

Ab welcher Spendensumme können Sie dieses Programm realisieren?

Ab einer Summe von 1200 Euro kann dieses Tagesprogramm mit den Jugendlichen umgesetzt werden.

 

Wenn dieser Tag stattgefunden hat – wird dieser dann zusammen mit den Jugendlichen nachbereitet? Und wenn ja, wie können wir uns das vorstellen?

Positive Lebensereignisse können ebenso verankert werden, wie dies bei den traumatischen Erlebnissen der Jugendlichen der Fall ist. Auf alle Fälle werden wir mit den jungen Menschen darüber sprechen und Fotos machen. Vielleicht werden wir die Fotos rahmen und in den Zimmern der Jugendlichen aufhängen, damit sie sich auch visuell daran erinnern können.

 

Und abschließend: Könnten Sie sich bei erfolgreicher Durchführung auch eine Fortsetzung vorstellen?

Bei der Not, die die Jugendlichen aufgrund ihrer Geschichte bewältigen müssen, kann es gar nicht genug schöne, unbeschwerte Momente geben.

 

Frau Schmidt-Neumeyer, herzlichen Dank für das eingehende Gespräch.